09 Dezember 2020

 

Das Ich über mir

Manchmal glaube ich, dass ich das Leben einer anderen führe. Eines Menschen, der an meiner Stelle hätte leben sollen. Das sagt sicher Jede mal. Doch bei mir ist es tatsächlich wahr.

Da gab es dieses Wesen, über das in meiner Kindheit nicht viel gesagt wurde.

Außer das es starb und meine Schwester gewesen wäre.


Lange Zeit verstand ich nicht, was der Zusammenhang zwischen mir und ihr war. Erst nach und nach, kam etwas mehr Licht in diese Geschichte.


Dennoch auch heute weiß ich nicht viel mehr über sie, als das es einmal ein Grab gab, dass irgendwann verschwand. Nur zwei kleine Tannen erinnern noch daran, dass sie dort liegt.


Ab und zu fielen kleine Satzfetzen in meiner Kindheit, aber auch das eher selten und man merkte stets, dass darin ein nie ausgesprochener Schmerz steckte. Und auch keiner meiner anderen Geschwister, wir sind drei, fragte nach der einen… Die eigentlich Ich hätte sein sollen.


Warum? Vor mir kamen meine Schwester und mein Bruder zur Welt. Ich, erst vier Jahre nach den beiden anderen. Dazwischen muss die Geburt meiner zweiten Schwester gelegen haben. Doch weder weiß ich, wie lange ihr wohl nur kurzes Leben war, noch was der Grund für ihren Tod war.


Lange kann es nicht gewesen sein, meine Oma sagte am Rande einer Unterhaltung, die ich belauschte, dass sie nur einen Tag gelebt hat.

Danach wollte meine Mutter keine Kinder mehr haben.


Doch ich kam trotzdem durch und zur Welt. Aber immer wieder bemerkte ich eine kalte Art mir gegenüber von meiner Mutter. Schon als Kind gab sie mir das Gefühl, nicht das zu sein, was sie sich eigentlich gewünscht hätte. In späteren Jahren habe ich versucht herauszufinden, warum, doch die Antworten waren oft verdeckt von der Vergangenheit und dem nicht eingestehen von Fehlern. Ich bin meiner Mutter deshalb auch nicht mehr böse. Wir sind einfach zu unterschiedliche Personen, um uns je gegenseitig zu verstehen. Aber mittlerweile akzeptieren wir uns und das war nicht immer so. Ich habe auch viel verkehrt gemacht und möchte davon auch einiges vergessen.


Wen ich nicht vergessen möchte, obwohl ich eigentlich nichts über sie weiß, ist meine mittlere Schwester. Vielleicht hatte sie vieles anders gemacht als ich. Vielleicht auch nicht.


Es ist schade, dass ich das nicht erfahren kann. Wer war sie, wer wäre sie heute? Kam sie wie jedes Kind schreiend zur Welt oder hat sie dieser zu gelacht?


Ich weiß es nicht, und traue mich auch nicht zu fragen. Denn immer, wenn sie erwähnt wird, oft in winzigen Sätzen, merkt man diese Traurigkeit, die einem erfasst und sprachlos macht. Man spürt, dass man sonst Dinge erfährt, die lieber nicht ausgesprochen werden sollten. Dennoch seitdem ich klein war, beschäftigt mich diese kleine Person.



Mittlerweile weiß ich, dass wenn es sie gegeben hätte, wäre ich heute nicht da. Ein seltsamer Gedanke, dass man sonst einfach nie existiert hätte. Denn nach Kind drei war bei meiner Mutter definitiv Schluss gemacht worden, mit Kinder bekommen. Was auch stimmt, denn nach mir kam keine mehr.


Komisch und das hab ich immer gespürt, dass ich nicht unbedingt gewollt war. Man hat mich gut behandelt, aber irgendwie war trotzdem immer etwas anders, als bei anderen. Ich frage mich, ob die andere trotz ihrer kurzen Zeit, anders war als ich. Ich war irgendwie immer zu viel, ich esse zu viel, ich rede zu viel und ich tu irgendwie auch nie, dass was man erwartet von mir.


Vermutlich wäre es die andere auch, aber vielleicht wäre sie auch das perfekte Vorbild gewesen. Zumindest stellte ich mir das früher so vor. Heute finde ich nur noch schade, das es sie im Grunde nie gegeben hat und das man sie vergessen hat. Ich hatte gerne eine Schwester gehabt, die näher an mir dran gewesen wäre, als meine sechs Jahre ältere Schwester. Von meinem Bruder ganz zu schweigen. Obwohl ich sie nie kannte, vermisse ich sie und wünschte erfahren zu können, wie sie gelebt hatte an meiner Stelle. Oder das sie mir ihre Vorstellung von Leben näher bringt. So aber bleibt sie nur das Ich über mir.






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